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25 Jahre STADT und RAUM – Spielraum für Spielräume

Eine Rückschau von Prof. Bernhard Meyer (Griesheim)



Bei dem Werben um Aufmerksamkeit werden ständig neue Begriffe erfunden, gestaltet und kommuniziert. Der neue Begriff ist jedenfalls Ausdruck einer vermuteten Modernität. Und jetzt beginnt ein Adaptionsprozess, bei dem nicht klar ist, ob nur die Etiketten ausgetauscht oder auch die inhaltliche Sichtweise verändert wurde. Da der Autor selbst ein Akteur in diesem Veränderungsprozess ist, was Spielräume angeht, ist die autobiografische Komponente nicht zu umgehen.

Die Entdeckung

1979 kam ich zu dem Analyseergebnis, dass der Lebensraum von Kindern segmentiert ist. »Erlebnisse und Aktivitäten finden an vorbestimmten Plätzen statt, deren sachgerechte Nutzung kontrolliert wird. Spontaneität und Kreativität sind hier ordnungswidrige Elemente. Die rigide geordnete Umwelt sichert diesen Zustand.« Dies mündete in der Forderung, in der Gegenwart die Perspektive und Sichtweise der Kinder einzunehmen.

Im Handbuch der Pädagogik, das 1984 erschien, ist dann schon von Spielräumen in der Stadt die Rede. Spielraum zu haben – das kann sowohl territorial im Sinne von Spielplatz verstanden werden als auch funktional im Sinne von Entscheidungsfreiheit. Ein Kind: »Bei uns war lange Feld. Da haben wir uns viele Hütten gebaut. Aber dann haben die Erwachsenen aus dem Feld eine Grünanlage gemacht.« Die damalige Schlussfolgerung, dass es Kindern in den Wohnquartieren unmöglich ist, Gesellschaft in allen sein Facetten kennenzulernen, sah so aus: »Es ist notwendig, Kindern Aneignungsprozesse zu ermöglichen.  Gesellschaftliche Alphabetisierung ist dazu gleichfalls gefragt wie herrschaftsfreie Räume und authentische Beziehungen zu Kindern.«

Dazu passt die Veränderung des Blicks auf den Verlauf von Kindheiten, den Helga Zeiher 1983 als »Verinselung« charakterisierte. So kam es in der pädagogischen Aktion München, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Zacharias, zu drei Tagungen (1984 bis 1986) zur Ökologie des Spiels, die bereits im Titel den Weg charakterisierten von »Spielräume für Kinder in der Stadt« über »Spielen kann man überall« zu »Spielraum für Spielräume«. Spielraum zu geben, das verdeutlichte ich so:

Kinder können sich ihre Umwelt aneignen.

Kinder werden in allen Ecken und Winkeln der Stadt akzeptiert und nicht in Reservate geschoben.

Kinder finden wieder Rückzugsgebiete, wo man unbeobachtet ist.

Kindern wird ein gleichberechtigter Status als Mitmensch zugestanden.

Spielen kann man überall – diese Aussage ist gemessen an der Realität nicht aufrecht zu erhalten, war das Resümee. Und es hieß weiter: »Das ist aber gar nicht notwendig. … Kinder definieren sich ihren Spielraum selbst. Dass aber Kinder diese Entscheidungen treffen, bedarf des Entscheidungsspielraumes. Und hier wird das Thema zum Programm. Ein Programm für eine Welt voller Spielraum mit Spielraum.«

Die Adaption

Es ist nicht verwunderlich, dass manche den alten Terminus »Spielplatz« gegen den neuen Begriff »Spielraum« austauschten, ohne die erweiterte Qualität zu realisieren. Die Pioniere der deutschen Sozialisationsforschung Muchow / Muchow haben bereits 1935 zwischen dem Raum unterschieden, in dem das Kind lebt (zugewiesener Möglichkeitsrahmen), den das Kind erlebt (tatsächliche Erfahrungen) und den das Kind lebt (tatsächliches Nutzungsverhalten). Während die Verhältnisse und das Verhalten durch Beobachtung erkundet werden können, sind die Erfahrungen nur durch einen Perspektivwechsel zu erschließen.

 Dieser setzt aber Lernbereitschaft und die Anerkennung von Kindern als Erfahrungsexperten voraus. Wer sich darauf einließ, erkannte sehr schnell, dass der öffentliche Raum als äußere Struktur das Risiko als Orientierungsmarke im Sozialisationsprozess thematisiert. Dies ist aber ein ganz anderer Akzent als die Sicherheitsinszenierung »Spielplatz« üblicherweise intendiert. Dass Spielraum erreichbar sein muss, dass er zugänglich sein muss, lässt sich als Erweiterung des Spielplatzes nachvollziehen. Aber die Definitionsoffenheit fällt dann doch schwer, wenn man rechtliche Normierung und pädagogische Zielsetzung gewohnt ist: Zwischen dem Kinderrisiko, das sich im Gefolge der Neugier, der Aneignung ergibt, und dem Erwachsenenversicherungsrisiko lässt sich offensichtlich schwer vermitteln, da die Perspektiven zu unterschiedlich sind.

 Erst langsam begann sich der Blick zu weiten: Eine Entwicklung, die die ganze Gemeinde, die das Stadtquartier als Ganzes in den Blick nimmt, verbreitet sich. Es gibt Arbeitsgruppen und Kommissionen, die die Spielraumentwicklung befördern sollen. In der Realität muss oft genug die Begrenzung auf die Fußgängerzone konstatiert werden. Der Deutsche SPIELRAUM-Preis, von der Fachzeitschrift STADT und RAUM 2005 erstmals verliehen, erweitert den Blick. Und auch die Fachzeitschrift vollzieht diese Weitung 1999 durch den (neuen) Titel »STADT und RAUM«.

 Die konsequente Umsetzung, Kinderorte und Kinderwege miteinander zu verknüpfen, konnte 2009 die südhessische Stadt Griesheim für sich reklamieren und mit dem Attribut »Erste bespielbare Stadt Deutschlands« kennzeichnen. Auf diese Weise ist die Stadt nicht nur kindgerechter geworden, sondern die Griesheimer Kinder können sich jetzt durch ihre Stadt hindurchspielen. Zusätzlich zu den 25 Spielplätzen gibt es weitere 101 Spielobjekte, die an den Kinderwegen einladen, sich wieder »auf die Socken« zu machen. Eine Befragung von 850 Grundschülern zeigte, dass alle Kinder diese Veränderung bemerkt haben. Drei von vier Kindern bewerten dies positiv. Die Zustimmung liegt im ersten Schuljahr bei 90 Prozent, während sich im vierten Schuljahr fast 60 Prozent begeistert äußern. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.

 Die Absicht anderer Kommunen, dem nachzufolgen, konnte bisher vielfach festgestellt werden. Außer der Gemeinde Petersberg bei Fulda sind jedoch bisher keine umfassenden Umsetzungen bekannt. Mehr als 30 Jahre nach den Anfängen einer Entwicklung vom Spielplatz zu den Spielräumen sind wenig Veränderungen zu konstatieren. Aber während alle Experten ganz selbstverständlich von Spielräumen sprechen, gibt es ein deutliches Umsetzungsdefizit. Insofern bleibt der damalige Imperativ »Spielraum für Spielräume« weiter aktuell. Erich Kästners Moral-Philosophie »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es« kann auch hier in Erinnerung gerufen werden.

Literatur:

Bernhard Meyer: Die Kinderfeindlichkeit der Städte – Zum Handeln Erwachsener, in: Esser, Johannes (Hg.): Wohin geht die Jugend? Gegen die Zukunftslosigkeit unserer Kinder, Reinbek bei Hamburg: rororo, 1979, S. 85 bis92.Bernhard Meyer: Spielräume in der Stadt. In: K.J. Kreuzer (Hg.): Handbuch der Spielpädagogik. Band 3: Das Spiel als Erfahrungsraum und Medium. Düsseldorf 1984: Schwann, S. 591 bis 606.

Kompendium »Mensch! Stadt!« mit drei Bänden »Perspektivwechsel und demokratisches Lernen«, »Die bespielbare Stadt – Zur Rückgewinnung des öffentlichen Raumes«, »Die besitzbare Stadt-Öffentlicher Raum und individuelle Sicherheit« in Aachen: Shaker, 2009 – 2011.

Martha Muchow, Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Bensheim 1978 (Original Hamburg 1935).

Helga Zeiher: Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern – Einheitlichkeit oder Verinselung? In: Lothar Bertel, Ulfert Herlyn: Lebenslauf und Raumerfahrung, Opladen: Leske und Budrich, 1990. S. 35 bis 57.

Wolfgang Zacharias (Hg): Spielraum für Spielräume – Zur Ökologie des Spiels 2; Reader Pädag. Aktion. München 1987.

Prof. Bernhard Meyer (71) ist ein konsequenter Wegbegleiter der Spielraumentwicklung und Mentor der bespielbaren Stadt. In vielen Beiträgen in der Fachzeitschrift STADT und RAUM hat er sein Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in seinen Facetten dargelegt. So wurde die bespielbare Stadt durch die besitzbare Stadt konsequent ergänzt. Hier geht es um Spielraum für die Langsamen.